Demografiewoche

Der demografische Wandel (1): Bundesrepublik Deutschland

Im Vorfeld der ersten Demografie-Woche in Sachsen-Anhalt, die mit dem Demografie-Kongress am 09.04. eingeleitet wird, wollen wir den demografischen Wandel auch hier im Blog des Pflegenetzwerks Harz im Rahmen einer vierteiligen Artikelserie – von der Bundesrepublik über Sachsen-Anhalt und den Landkreis Harz bis zu Halberstadt und Umgebung – näher beleuchten und beginnen daher heute mit einem Blick aufs „große Ganze“ – die Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland seit den 1960er Jahren.

Der demografische Wandel wird die meisten europäischen Gesellschaften – Europa ist derzeit die durch Verschiebung von Altersstrukturen am stärksten beeinflusste Region der Welt [vgl. Carretero et al. 2012, S. 14] – in den kommenden Jahrzehnten massiv verändern und tiefgreifende Auswirkungen auf Arbeitsmärkte, Raum- und Infrastrukturplanungen, gewachsene Sozialsysteme und die medizinische und pflegerische Grundversorgung entfalten. Dabei ist der Wandel in Deutschland schon weiter fortgeschritten, als überall sonst in Europa: In keinem anderen Land lebten bereits im Jahr 2010 mehr Menschen über 65 Jahren (20,7%) als in der Bundesrepublik, dicht gefolgt nur von Italien mit 20,2%. Europaweit lag der Bevölkerungsanteil der Seniorinnen und Senioren im gleichen Jahr noch bei 17,4%, wobei sich einige Staaten (wie etwa Irland mit 11,3%) deutlich nach unten abgrenzten [vgl. Haustein und Mischke 2011, S. 89].

Infografik: Demografischer Wandel: Andere Länder wird es noch härter treffen als Deutschland | Statista
Mehr Statistiken finden Sie bei Statista

Ursächlich für die Dynamik dieser Entwicklung ist insbesondere der sogenannte Effekt der „doppelten demografischen Alterung“ – der steigenden Lebenserwartung bei gleichzeitig sinkender Geburtenrate [vgl. BMBF 2013b, S. 12]. So hat sich etwa die Lebenserwartung in Deutschland in den vergangenen 100 Jahren bereits um mehr als 30 Jahre erhöht [vgl. Haustein und Mischke 2011, S. 4] und steigt derzeit durchschnittlich um drei Monate pro Jahr an. Für ein nach dem Jahr 2010 zur Welt gekommenes Kind liegt die Wahrscheinlichkeit auf das Erleben des 100. Geburtstags damit bereits bei über 50% [vgl. BMBF 2013a, S. 23]. Gleichzeitig sank die Geburtenrate in beiden deutschen Staaten seit Mitte der 1960er Jahre kontinuierlich ab, so dass der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die demografische Entwicklung prägende Geburtenüberschuss zu Beginn der 1970er Jahre durch einen Überschuss an Sterbefällen abgelöst wurde [vgl. Grünheid und Ahmed 2013, S. 8]. Sorgte bis zum Jahr 2003 noch der Überschuss aus der Zuwanderung für eine insgesamt ansteigende Gesamtbevölkerungszahl, so lässt sich die doppelte demografische Alterung seit 2004 auch durch ein positives Wanderungssaldo nicht mehr ausgleichen [vgl. Grünheid und Ahmed 2013, S. 10].

Diese Entwicklungen führen in ihrer Kombination dazu, dass sich die Altersstruktur der Bevölkerung erheblich verschiebt: Lag der Anteil der Deutschen mit einem Alter ab 65 Jahren im Jahr 1871 noch bei knapp 5%, ist heute bereits – wie bereits erwähnt – mehr als jeder fünfte Deutsche dieser Altersgruppe zuzuordnen. Ausgehend von den Annahmen der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung ist damit zu rechnen, dass der Anteil der Seniorinnen und Senioren an der deutschen Bevölkerung bis zum Jahr 2060 auf über 34% ansteigen wird, während der Anteil der Deutschen unter 20 Jahren – eine Altersgruppe, der 1871 noch 43% der Bevölkerung zugerechnet werden konnten – zeitgleich auf unter 16% absinken wird [vgl. Grünheid und Ahmed 2013, S. 14]. Bis 2060 wird sich außerdem nicht nur die Gesamtbevölkerung von aktuell rund 82 Millionen auf etwa 70 Millionen Menschen reduzieren, sondern auch der Anteil der Erwerbstätigen um mehr als 20% abnehmen [vgl. BMWi 2014, S. 6].

Ein besonders dramatischer Anstieg wird in den kommenden Jahrzehnten in der Bevölkerungsgruppe der sogenannten Hochaltrigen (Personen ab 80 Jahren) stattfinden. Lag deren Bevölkerungsanteil im Jahr 1871 noch bei weniger als 1%, ist er bereits auf über 5% gestiegen und wird sich bis 2060 bis auf 14% nahezu verdreifachen [vgl. Grünheid und Ahmed 2013, S. 15]. Dies entspricht einem absoluten Anwachsen dieser Gruppe von etwa 4 Millionen Menschen im Jahr 2014 auf mehr als 10 Millionen Menschen im Jahr 2050 [vgl. BMWi 2014, S. 6].

Statistik: Bevölkerung - Verteilung der Einwohner in Deutschland nach Altersgruppen am 31. Dezember 2013 | Statista
Mehr Statistiken finden Sie bei Statista

Da mit zunehmendem Alter das Risiko steigt, aufgrund von Alterserscheinungen und chronischen Erkrankungen auf pflegerische Unterstützung angewiesen zu sein, stellt der demografische Wandel die gesundheitlichen Pflege- und Versorgungsstrukturen vor besondere Herausforderungen: Während lediglich 0,5% der Deutschen bis zum Alter von 59 von Pflegeleistungen abhängig sind, sind es in der Gruppe der Deutschen über 89 ganze 59%. Die Altersverteilung der Schwerstbehinderungen unterstreicht ebenfalls den starken Zusammenhang zwischen Alter und Hilfsbedürftigkeit: 55% aller schwerstbehinderten Deutschen sind älter als 65 Jahre. Aufgrund dieses Zusammenhangs kommt es mit der Verschiebung der Altersstruktur auch zu einem ganz erheblichen Anstieg an Pflegebedürftigen – von 2,3 Millionen im Jahr 2009 über 2,9 Millionen im Jahr 2020 auf 3,4 Millionen im Jahr 2030 [vgl. Haustein und Mischke 2011, S. 82].

Der Blick auf die prognostizierte Entwicklung des sogenannten Gesamtquotienten lässt erahnen, welche gesellschaftlichen Umwälzungen diesen Veränderungen folgen werden. Als Gesamtquotient bezeichnet man die Summe von Jugendquotient (das Verhältnis von Kindern und Jugendlichen unter 20 Jahren zur Haupterwerbsgruppe zwischen 20 und 64 Jahren) und Altenquotient (das Verhältnis von Seniorinnen und Senioren ab 65 Jahren zur Haupterwerbsgruppe zwischen 20 und 64 Jahren). Der Gesamtquotient, der somit das (ungefähre) Verhältnis von abhängiger (Kinder, Jugendliche und Rentner) zu erwerbsfähiger Bevölkerung zeigt, wird sich in Deutschland von 64,1 im Jahr 2011 über 83,5 im Jahr 2030 auf 98,4 im Jahr 2060 verschieben [vgl. Grünheid und Ahmed 2013, S. 16]. Im Hinblick auf die pflegerische Versorgung von größerer Bedeutung als der Gesamtquotient ist der intergenerationelle Unterstützungskoeffizient, der die Zahl der Hochaltrigen (ab 80 Jahren) zur Größe der Kindergeneration im Alter von 50 bis 64 Jahren setzt, aus deren Reihen sich die meisten informell Pflegenden rekrutieren. Kamen im Jahr 2011 auf einen potentiell pflegebedürftigen Hochaltrigen noch 3,8 potentielle Unterstützer aus der nachfolgenden Generation, wird das Verhältnis über 3,2 im Jahr 2020 auf 2,5 im Jahr 2030 absinken [vgl. Grünheid und Ahmed 2013, S. 21].

Welche Chancen und Herausforderungen sich aus diesen Entwicklungen für Sachsen-Anhalt – und dort insbesondere für den Landkreis Harz bzw. für Halberstadt – ergeben, wird Gegenstand der nächsten Blogposts dieser Reihe sein.

Verwendete Quellen

[BMBF 2013a] Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2013a): Demografie-Werkstattgespräche. Mit Forschung den Weg in die Zukunft gestalten. Berlin.

[BMBF 2013b] Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2013b): Technik zum Menschen bringen. Dokumentation des 1. BMBF-Zukunftskongresses Demografie vom 21.-22.10.2013 in Berlin. Berlin.

[BMWi 2014] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2014): Ausbildung junger Menschen aus Drittstaaten. Chancen zur Gewinnung zukünftiger Fachkräfte für die Pflegewirtschaft. Berlin.

[Carretero et al. 2012] Carretero, Stephanie; Stewart, James; Centeno, Clara; Barabella, Francesco; Schmidt, Andrea; Lamontagne-Godwin, Frédérique, Lamura, Giovanni (2012): Can Technology-based Services support Long-term Care Challenges in Home Care? Publications Office of the European Union. Luxemburg.

[Grünheid und Ahmed 2013] Grünheid, Evelyn; Ahmed, Najeeb (2013): Bevölkerungsentwicklung 2013. Daten, Fakten, Trends zum demografischen Wandel. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Wiesbaden.

[Haustein und Mischke 2011] Haustein, Thomas; Mischke, Johanna (2011): Ältere Menschen in Deutschland und der EU. Unter Mitarbeit von Johanna Mischke und Susanne Hagenkort-Rieger. Statistisches Bundesamt. Wiesbaden.