Abrechnungsbetrug in der Pflege – drohen neue Doku-Pflichten?

In der vergangenen Woche war in den Medien auffallend viel von mutmaßlichen Abrechnungsbetrügereien in der Pflege durch die sogenannte „Russenmafia“ zu hören – offenbar wurden durch einige mobile Pflegeanbieter über Jahre hinweg nicht erbrachte oder illegalerweise durch Hilfskräfte ausgeführte Tätigkeiten mit den Kassen abgerechnet. Sollten sich diese Vorwürfe bewahrheiten, liegt es natürlich im Interesse aller sauber arbeitenden Pflegedienste und Pflegekräfte, dass solche Praktiken beendet und die Drahtzieher vor Gericht gestellt werden. Was dagegen überhaupt nicht im Interesse der Pflege liegt, sind neue Dokumentationspflichten, wie sie von einigen politischen Akteuren in den vergangenen Tagen schon medial ins Spiel gebracht wurden.

Bereits heute leidet die gesamte Pflege unter einer deutlich zu hohen Dokumentationslast. So entfallen etwa in der stationären Altenpflege rund 50% der Arbeitszeit auf die Grundpflege, 20% auf die Behandlungspflege – und immerhin schon 30% auf Pflegedokumentation, Besprechungen und logistische Nebentätigkeiten [vgl. Becke et al. 2011, S. 15-16]. In der ambulanten Pflege ist das Verhältnis pflegerischer zu nicht-pflegerischer Tätigkeiten (insbesondere aufgrund der zusätzlichen Fahrtzeiten) sogar noch ungünstiger [vgl. Becke et al. 2011, S. 27]. Im Rahmen unseres SEVIP&V-Projekts kamen Studierende der Hochschule Harz bei Workshops mit Pflegekräften in vier Pflegeeinrichtungen in Halberstadt zu ähnlichen Ergebnissen. Wie durch die Teilnehmerinnen (die Pflege ist weiblich) in allen vier Workshops betont wurde, steigt die Arbeitsfrustration mit dem ebenfalls zunehmenden zeitlichen Anteil der zumeist als fachfremd, lästig und bisweilen auch überflüssig empfundenen Dokumentationstätigkeiten stetig an. Gerade erfahrene Pflegekräfte bedauerten in teils sehr emotionalen Statements, dass sie sich beispielsweise nicht mehr gebührend von Sterbenden verabschieden konnten, weil Dokumentations- und Kontrollpflichten Vorrang eingeräumt werden musste.

Während ein gewisser Dokumentationsumfang in der Pflege vollkommen gerechtfertigt ist, hat die sprunghafte Zunahme der Dokumentations- und Kontrollpflichten in den vergangenen zehn Jahren zu einer für alle Seiten unbefriedigenden Situation geführt: Pflegekräfte sind überarbeitet und frustriert, Patienten und Angehörige verstehen nicht, warum oft kaum Zeit für ihre persönlichen Anliegen verfügbar ist und Mediziner und Kontrolleure sehen sich mit Bergen von Daten konfrontiert, die kaum noch sinnvoll ausgewertet werden können. Der hohe Dokumentationsaufwand erschwert darüber hinaus die Integration selbst gut ausgebildeter Pflegefachkräfte aus dem Ausland, die mit einem anderen, stark patientenbezogenen Verständnis von Pflege hier ankommen, und denen man mühsam vermitteln muss, warum die zwischenmenschliche Komponente der Pflege im Zweifelsfall hinter den Formularen zurückzustehen hat.

Durch das durch die Bundesregierung initiierte Projekt zur Entbürokratisierung der Pflege sowie eine ganze Reihe neuer, IT-gestützter Dokumentationsanwendungen bewegt sich das Verhältnis von Pflegezeit zu Dokumentationszeit seit kurzem wieder – in kleinen Schritten – in die richtige Richtung. Hoffen wir, dass der medial stark rezipierte Skandal um den Abrechnungsbetrug der „Russenmafia“ nicht dazu führt, dass die Politik der Pflege neue Dokumentationslasten aufbürdet. Sollte man am Ende zu der Überzeugung gelangen, dass eine verstärkte Kontrolle insbesondere ambulanter Pflegeleistungen erforderlich ist, sollte diese nach Möglichkeit nicht über noch mehr Formulare und Berichte, sondern über zusätzliche Untersuchungen an und Gespräche mit Patientinnen und Patienten erfolgen. Darüber hinaus liegt es an der Politik, die Rahmenbedingungen für Pflege so zu gestalten, dass gute und fair bezahlte Pflege sich am Markt besser gegen „Billigheimer“ mit fragwürdigen Abrechnungspraktiken behaupten kann.

Quellen

[Becke et al. 2011] Becke, Guido; Bleses, Peter; Gundert, Hannah; Wetjen, Anna (2011):Trendreport ambulante soziale Unterstützungsdienstleistungen im Alter – arbeitswissenschaftliche Perspektiven. Universität Bremen. Bremen.